Sternabert

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Montag, 27. November 2017

Ein Blick auf den Saatgans Komplex...

In diesem Post möchte ich versuchen, einen Überblick über die Situation bei der Einteilung der Saatgänse zusammen mit der Kurzschnabelgans zu erstellen und darauf basierend die Verhältnisse im Havelland zu erörtern. Das Thema an sich wird schon seit über hundert Jahren bis hinein in die Gegenwart und nicht selten auch recht kontrovers diskutiert. Frühere Autoren orientierten sich bei der taxonomischen Einteilung der Saatgänse ausschließlich an morphologischen, sprich äußerlich erkenn- und beschreibbaren Merkmalen.
So unterschied Naumann 1848 3 verschiedene Arten: Anser arvensis, A. segetum und A. brachyrhynchus. Johansen legte sich gegen 1945 auf eine Art - Anser fabalis - in 8 Unterarten - A .f. fabalis, middendorffii, sibiricus, rossicus, serrirostris, mentalis, neglectus und brachyrhynchus fest. Delacour relativierte die Angelegenheit 1951 wieder auf eine Art - fabalis - in 6 Unterarten - fabalis, johanseni, middendorffii, rossicus, serrirostris, brachyrhynchus. Johansen spaltete gegen 1959 die Kurzschnabelgans - Anser brachyrhynchus - als eigene Art ab und unterschied jetzt die Saatgans - A. fabalis - in 5 Unterarten - fabalis,  johanseni, middendorffii, rossicus, serrirostris. Vaurie griff 1965 erneut das von Delacour 1951 erstellte System auf, bevor Bauer & Glutz von Blotzheim - 1968 - sowie Cramp & Simmons - 1977 - wieder Johansen letztes Konzept propagierten.
Im Zuge der Entwicklung der wissenschaftlichen Methoden im 20. Jh. setzte sich nach und nach der populationsgenetische Artbegriff durch, der auf genetischen Verwandschaftsverhältnissen beruht und aufzeigte, dass sich morphologische Unterschiede oft nur als Variation innerhalb einer Art oder Unterart zeigen. Sangster & Oreel beschrieben 1996 3 eigene Arten, nämlich Anser fabalis, A. serrirostris und A. brachyrhynchus. Ruokonen brachte es im Jahre 2008 auf 3 Arten - Anser fabalis - in 3 Unterarten - A. f. fabalis, A. f. rossicus, A. f. serrirostris - Anser middendorffii und Anser brachyrhynchus.
Die fogende systematische Einteilung beruht auf dem Vergleich von mitochondrialer DNS von 199 in ihren Brutgebieten gesammelten Gänseindividuen und entspricht gewissermaßen dem "Stammbaum" der grauen Feldgänse - extra hervorgehoben die Unterteilung des Saatgans-Komplexes.
beschriftetes Schema nach M. Ruokonen, K. Litvin und T. Aarvak 2008
Hierbei ist anzumerken, dass die genetische Distanz bei den Gänsearten, verglichen mit anderen Vogelgruppen, relativ gering ist, so dass man davon ausgehen muss, dass es sich um eine phylogenetisch relativ junge Vogelgruppe handelt. Aufgrund dieser geringen genetischen Distanz kommt es nicht selten auch zu Hybriden zwischen verschiedenen Gänsearten.
Ich persönlich finde die Einteilung von Ruokonen et al. recht einleuchtend und orientiere mich im Feld an einem Konglomerat von Erkenntnissen verschiedener Gänseforscher, die Ruokonens Modell ihrer Arbeit zugrundelegen.
Karte nach M. Ruokonen, K. Litvin und T. Aarvak 2008
Auf der Karte sind grob die Brutgebiete der verschiedenen Arten, bzw. Unterarten des Saatganskomplexes eingezeichnet. Möglicherweise mit Klinen an den jeweiligen Arealsgrenzen. Saatgänse werden ab ihrem 2. Lebensjahr geschlechtsreif. Da die Paarbildug der Gänse in der Regel im Winterquartier stattfindet und die Jungtiere im Familienverband in die traditionell angestammten Überwinterungsgebiete der Eltern mitfliegen, scheinen Durchmischungen der verschiedenen Arten bzw. Unterarten aufgrund der unterschiedlichen Überwinterungsgegenden und der Separation von Tundra- und Wald-Saatgänsen in selbigen, eher die Ausnahme. Im Folgenden habe ich versucht, stichpunktartig die Zugstrategien der einzelnen Taxa aus der Karte darzulegen:

1 brachyrhynchus (Kurzschnabelgans):
Überwintert in Nordwesteuropa, hauptsächlich in Großbritannien, Dänemark, Niederlande, Belgien und Nordwestdeutschland, wobei der in Deutschland überwinternde Teil der Spitzbergen-Population zuzurechnen zu sein dürfte. Grönländer und Isländer überwintern auf den Britischen Inseln. Wahrscheinlich entstammen die Vögel, die schon frühestens Ende September im Havelland auftauchen, der östlichen Teilpopulation Spitzbergens und fliegen alternativ zum eigentlichen Zugkorridor über Norwegen, Dänemark und die Deutsche Bucht, über das skandinavische Binnenland über Schweden oder noch weiter östlich, wo sie sich zumeist Tundrasaatgänsen anschließen, in ihre Winterquartiere - eine andere Theorie vermutet, dass diese Gänse einer "unbekannten" bzw. "unentdeckten" russischen Population entstammen.

2 rossicus (Westliche Tundra-Saatgans):

Überwintert in Nordwesteuropa und Mitteleuropa bis Südeuropa, überwiegend in den Niederlanden und Deutschland mit Tendenz zur Ostverlagerung – Ostdeutschland, Polen.
Da die westlichen Tundra-Saatgänse, aufgrund der klimatischen Bedingungen, vergleichsweise früh in ihren Brutgebieten ankommen und diese relativ spät wieder verlassen, ist im Havelland ab Mitte Oktober bis hinein in den Februar mit größeren Rast-, bzw. Überwinterungs-Beständen zu rechnen - rossicus-Gänse stellen den mit Abstand überwiegenden Teil der im Havelland zu beobachtenden Saatgänse.

3 serrirostris (Östliche Tundra-Saatgans):

Überwintert hauptsächlich in Ostasien (China, Japan, Korea) und Südostasien.
Nach neueren Erkenntnissen niederländischer Gänseforscher ziehen in der kalten Jahreszeit jedoch auch bis zu 10 % der Gesamtpopulation, insbesondere die Individuen aus der westlichen Verbreitungszone in die Niederlande (van den Bergh 2004) und müssten somit auch in Brandenburg zu beobachten sein. Das von van den Bergh skizzierte Bild zeichnete sich bis dato im Havelland noch nicht ab, ggf. wurde serrirostris in den letzten Jahren aber auch einfach nur übersehen. Östliche Tundra-Saatgänse erreichen ihre Brutareale erst spät und räumen selbige schon recht früh, so dass sie vornehmlich im März, bzw. Ende September/Anfang Oktober im Havelland durchziehen dürften. Sollten serrirostris Gänse zusammen mit rossicus im gleichen Gebiet überwintern, müsste es hier u.U. zu Mischverpaarungen kommen - die Nachkommen aus diesen Verbindungen im Feld sicher als solche zu bestimmen, dürfte allerdings nahezu unmöglich sein.

4 fabalis (Westliche Wald-Saatgans):

Wird in 4 Teilpopulationen, die westliche, die zentrale und 2 östliche, unterteilt. Überwintert in Nordeuropa (Schweden, Dänemark, Norddeutschland und Polen). Ein Teil der am weitesten östlich brütenden Teilpopulation fliegt nach Zentralasien (Kasachstan, Kirgistan, Nord-West-China). In Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg überwintern bis zu 80% der Vögel aus einer der beiden russischen Teilpopulationen, deren Brutgebiete in der oberen Petčora-Region und im westsibirischen Flachland zu finden sind. Allerdings tauchen allwinterlich auch regelmäßig einzelne Vögel/Familien aus der zentralen, skandinavischen Brutpopulation bei uns auf - wie Halsringablesungen belegen.

5 middendorffii (Östliche Wald-Saatgans):

Überwintert in Ostasien (China, Japan, Korea) und Südostasien. Gänse aus westlichen Teilen des Brutgebietes fliegen wohl auch nach Zentralasien (Süd-Ost Kasachstan, Ost-Kirgistan und Nord-West-China), wo sie ggf. auf östliche fabalis treffen und sich dort u.U. auch mit diesen verpaaren. Das früher beschriebene Taxon johanseni ist auch heute noch stark umstritten, wird von einigen Autoren grundsätzlich fabalis zugerechnet, könnte aber auf die Beschreibung eben solcher Hybriden zurückzuführen sein.
Belegte Nachweise der Östlichen Waldsaatgans in Brandenburg stehen noch aus.

Die Situation bezüglich der Arten, bzw. Unterarten im Havelland gestaltet sich also eher übersichtlich. Mit den ersten Tundrasaatgänsen ist um den 10. September herum zu rechnen, dann in kleineren Gruppen. Phänotypisch entsprechen diese Vögel nach meinem Dafürhalten der ssp. rossicus. Einen Monat später, etwa um den 10. Oktober herum, wird der "Peak" erreicht. Zu diesem Zeitpunkt kann man abends am Gülper See ein packendes Naturschauspiel erleben, wenn bis zu 110000 nordische Feldgänse (Saat- und Blessgänse), hoch von Ost, zur nächtlichen Rast auf dem als Vorsammelplatz bekannten Gewässer einfallen. In den nächsten Wochen wird der See gewissermaßen als "Durchgangsbahnhof" für die in den weiter westlich und südlich gelegenen Regionen überwinternden Gänse fungieren - dann sukzessive in abnehmender Zahl. Einige der Tiere verweilen hier und sind tagsüber in der Umgebung auf abgeernteten Äckern und Grünland bei der Nahrungssuche zu beobachten. Andere ziehen umgehend weiter in die Niederlande und die Rheinebene. Ab jetzt sind auch immer wieder, jedoch nur sehr verinzelt, fabalis-Waldsaatgänse dabei - wegen ihrer imposanten, dabei aber filigranen Erscheinung und auch sonst, meine persönlichen Favoriten. Die beste Zeit um diese Vögel aus den havelländischen Rasttrupps von Tundrasaatgänsen heraus zu picken ist allerdings der Mittwinter und sie finden sich hier in den letzten Jahren nur noch in geringer Zahl ein. Um größere fabalis-Verbände zu sehen, sollte man besser ins Oderbruch oder nach Mecklenburg Vorpommern aufbrechen. Kurzschnabelgänse treten ab Ende September regelmäßig, jedoch ebenfalls nur in geringer Zahl in der Havelniederung auf. Ab November sind die meisten Gänse durchgezogen und nur noch zu einigen tausend Exemplaren in hiesigen Gefilden present. Gute Beobachtungsmöglichkeiten bieten sich jetzt im Gebiet um den Gülper See und vor allem in der Mittleren Havelniederung um Roskow, Zachow, Gutenpaaren und Wachow. Leider werden die Gänse immer häufiger von den ortsansässigen Landwirten vergrämt. Ab dem 01. November sind sie zudem zur Jagd freigegeben, was umgehend zu einer merklich zunehmenden Unruhe unter den Tieren und folglich zu erhöhter Fluchtdistanz führt. Mit einiger Umsicht und guter Fernoptik sind sie zumeist jedoch dennoch relativ gut zu beobachten. Retoure geht´s im Februar und Mitte, Ende März wird das Havelland dann endgültig geräumt. Jetzt trifft man nur noch auf Einzeltiere oder kleine, versprengte Trupps die in der Mehrzahl aus vorjährigen Vögeln bestehen.

Im Folgenden ein paar Eindrücke von "Gesichtern" aus dem Havelland...
Tundrasaatgans (rossicus) links, Waldsaatgans (fabalis) rechts - Februar
Tundrasaatgans (rossicus) links, Waldsaatgans (fabalis) rechts - Februar
Tundrasaatgans (serrirostris-typ?) vorn, Kurzschnabelgans (brachyrhynchus) hinten - März
Tundrasaatgans (serrirostris-typ?) - März
Waldsaatgans (fabalis) - Dezember
Tundrasaatgans (rossicus) - Februar
Waldsaatgänse (fabalis) - Dezember
Tundrasaatgans (rossicus) links, Zwerggans (erythropus) rechts - März
Kurzschnabelgans (brachyrhynchus) links, Tundrasaatgans (rossicus) rechts - März
Tundrasaatgänse (rossicus) und vermeintlicher Hybrid (rossicus x albifrons) - Februar
Waldsaatgänse (fabalis) - Oktober
Tundrasaatgans (serrirostris-typ) - März
Tundrasaatgänse (serrirostris-typ) - März
Tundrasaatgänse (rossicus), Kurzschnabelgans (brachyrhynchus) mittig - März
Und jetzt viel Spaß beim Goosing!